Was ist Eurythmie und warum machen wir sie?

Eine Annäherung

Als Waldorfschüler*in hat man sich mit so manchen Vorurteilen und falschen Annahmen herumzuschlagen. Doch kaum eine Aussage hört man so oft wie diese: „Du gehst Waldorfschule? Das heißt, du kannst deinen Namen tanzen?“ Nicht selten mit einem höhnischen Unterton. Mittlerweile kann ich mit Stolz sagen: „Ja, das kann ich!“ Und das ganze mit Humor hinnehmen. Doch als Schülerin fiel es mir nicht so leicht, locker mit Vorurteilen anderer Schüler aus „normalen“, sprich staatlichen Schulen umzugehen. Und wenn ich beschreiben sollte, was denn Eurythmie überhaupt ist, so kam ich in Erklärungsnot. Denn ganz klar war es mir selbst nicht.

Ja, was ist denn Eurythmie eigentlich?

Das habe ich mich viele Jahre lang gefragt, sogar oder erst recht, während ich in pastellfarbenen Seidenkleidern und Eurythmie-Patschen durch das Eurythmie-Klassenzimmer lief. Erst in der Oberstufe waren wir– die Schüler*innen meiner Klasse – so weit, unserer Eurythmie-Lehrerin Fragen nach dem tieferen Sinn von Eurythmie zu stellen. Heute möchte ich einen Erklärungsversuch wagen, um für alle, die ebenfalls ein großes Fragezeichen mit Eurythmie verbinden, ein wenig Klarheit zu schaffen.

„Du gehst Waldorfschule? Das heißt, du kannst deinen Namen tanzen?“

Zur Begriffsklärung: Das Wort Eurythmie leitet sich aus den griechischen Wörtern >eu<, was soviel heißt wie ‚richtig’, ‚gut’ und >rhythmus<, das lässt sich mit ‚Ebenmaß’ oder ‚richtiges Verhältnis’ übersetzen. Zusammengesetzt ergeben diese Ausdrücke das Wort Eurythmie und meinen soviel wie Ebenmaß in Bewegung, schöne Bewegung, Fluss der Gesten oder auch Spiel der Farben.

Anthroposophische Bewegungskunst

Eurythmie wurde vor 100 Jahren von Rudolf Steiner zusammen mit Marie von Sivers entwickelt. Heute teilt sich diese anthroposophische Bewegungskunst in drei Richtungen auf.

  • Bühnenkunst
  • Therapeutische Methode (Heileurythmie)
  • Integraler Bestandteil der Waldorfpädagogik

In der Waldorfschule wird von der ersten Schulstufe an Eurythmie unterrichtet. Schon im Kindergarten wird es spielerisch geübt. Das Instrument der Eurythmie ist der Körper selbst, mit ihm werden Musik und Sprache zum Ausdruck gebracht. Es gibt ein „ Alphabet“, das heißt, jeder Laut von A bis Z hat seine eigene Geste, mit der er ausgedrückt werden kann. Laute dienen als Grundlage für unsere Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeit. Mit Körpergefühl können wir ihnen nachspüren und sie in Bewegung sichtbar machen. In der Eurythmie artikulieren Arme und Hände weiche, fließende Gesten, Beine und Füße folgen dabei zumeist einer (energetischen) Form, einer Choreographie. Das tolle an der Eurythmie ist, dass sie sehr niederschwellig ist um einzusteigen. So können schon kleine Kinder ohne Tanzerfahrungen abgeholt werden und zusammen mit den Lehrer*innen in eine Geschichte hineingehen und diese in Bewegung erleben.

Energie der Gemeinschaft

Während es durchaus Solo-Eurythmisten gibt, lebt die Eurythmie in der Schule von der Energie der Gemeinschaft. Es geht um das, was zwischen den Menschen passiert. Es geht um das Individuum in der und um die Gruppe, um Abstand und Nähe und Formen. Es ist ein Geben und Nehmen zwischen Menschen. Nach dem Prinzip von Ordnung und Chaos. Auf diese Weise werden die Kinder nicht nur in der Gruppe besser aufeinander eingestimmt, sondern lernen auch, in der spielerischen Leichtigkeit der Eurythmie Gefühle und Zustände der Seele zu erfahren und auszudrücken. Eurythmie will im Miteinander erfahren und gestalten. Die rhythmische Ordnung der Eurythmie erzeugt ein Spannungsfeld zwischen Denken und Fühlen.

Es ist ein Geben und Nehmen zwischen Menschen.

Ich weiß, das mag für manch einen jetzt ein wenig esoterisch oder gar abgehoben klingen. Aber jede Form von Bewegung macht etwas mit uns. Ein Läufer erfährt sich während eines Laufs in einer Art und Weise, wie es ihm sonst nicht möglich wäre, ein Kraftsportler kommt während seines Gewichte-Trainings an ungeahnte Grenzen und lernt neue Facetten seines Selbst kennen. Stark verbreitet ist es etwa auch im Yoga, wo Yogaposen Blockaden lösen oder (unterdrückte) Gefühle freisetzen. Ganz ähnlich ist es mit der Eurythmie. Die scheinbare Leichtigkeit und Verspieltheit, die in dieser Bewegungskunst jedem Individuum Raum für seinen eigenen Weg lässt, folgt im Grunde komplexen Regeln. Jeder Laut hat seine Bedeutung, jede Bewegung zu den Lauten folgt einer energetischen Kraft. Alles im Leben ist Energie. Auch die Eurythmie.

Heileurythmie

Kurz möchte ich noch auf die Heileurythmie eingehen. Sie ist eine spezielle Art der Eurythmie, eine therapeutische Methode. Sie gehört in den Kreis der anthroposophischen Medizin. Hierbei handelt es sich um eine ganzheitliche Einzeltherapie. Sie wird bei akuten, chronischen oder degenerativen Erkrankungen des Nervensystems, des Herz-Kreislaufsystems, des Stoffwechselsystems und des Bewegungsapparates angewandt. Außerdem bei kindlichen Entwicklungsstörungen, Behinderungen, Psychosomatik, Psychiatrie, Augen- und Zahnproblemen.
Kleine Anekdote: Ich selbst wurde jahrelang aus dem Unterricht geholt und zur Zahn-Heileurythmie gebracht. Ich erinnere mich, dass ich nicht unbedingt erfreut darüber war. Vor allem, da ich den Hintergrund nicht verstand und ganz ehrlich gesagt deshalb auch nicht daran glaubte. Aber ich kann heute sagen: Meine einst schiefen Zähne sind ohne jegliche Schmerzen gerade geworden und ich musste mein Leben lang keine Zahnspange tragen!

An unserer Schule unterrichten Frau Genevieve De Lamelle, Katharina De Roos und Jenny Rüter mit großem Engagement das Fach Eurythmie. Jürgen Aurin ist unser Heileurythmist aus Leidenschaft.

 

Von Miriam Leitold
ehemalige Waldorfschülerin
PR- & Kommunikationsverantwortliche der Waldorfschule Karl Schubert Graz

 

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