„Runde Ecken“ – Grundlagen der anthroposophischen Architektur

Wer schon einmal eine Waldorfschule betreten hat weiß: Hier gibt es keine geraden Winkel. Anstatt alltäglicher Bauten und klassischer Architektur präsentieren sich Waldorfschulen weltweit in einzigartigem, anthroposophischem Design. Wie diese spezielle Form der Architektur entstanden ist und welche Hintergründe diese hat, wollen wir in diesem Beitrag klären.

Begründer der anthroposophischen Architektur ist der Begründer der Anthroposophie selbst: Rudolf Steiner. Sein erstes architektonisches Projekt war im Jahr 1907 die Innenausstattung für den Jahreskongress der Theosophischen Gesellschaft. Damit erweckte er das Interesse eines Studenten, Carl Stockmeyer, welcher Steiner daraufhin für eine Gebäudegestaltungen in eben diesem Stil engagierte. Das Projekt musste jedoch vor Fertigstellung abgebrochen werden – Grund war die aufkommende Nationalsozialistische Regierung in Deutschland.

Das erste und zweite Goetheanum

Der Durchbruch der anthroposophischen Architektur gelang mit dem Goetheanum. Doch auch dieser Start war holprig: Zwischen 1913 und 1922 wurde in Dornbach bei Basel in der Schweiz das erste Goetheanum errichtet. Doch noch bevor es fertiggestellt werden konnte, brannte das Gebäude in der Silvesternach auf den 1. Jänner 1923 vollständig ab. Schon wenige Monate nach dem tragischen Zwischenfall, entschied man sich dazu, das Gebäude neu zu errichten. 1924 begannen die Bauarbeiten des zweiten Goetheanums, welches am 29. September 1928 offiziell eröffnet wurde und auch heute noch als Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft sowie der freien Hochschule für Geisteswissenschaft mit ihren Sektionen dient.

Konzeption

Ein großer Saal mit 900 bis 1000 Plätzen und einer Bühne bietet Raum für Eurythmie-Aufführungen, Vorträge und schauspielerische Inszenierungen. Das Gebäude ist einerseits durch seine geometrische Verhältnisse geprägt, andererseits machen es die einzelnen Formen, die in eine lebendige Bewegung überführen zu etwas ganz Einzigartigem.

Waldorfschulen weltweit

Die über 1100 Waldorfschulen weltweit sind alle individuell und grundverschieden und dennoch haben sie etwas gemein: Der anthroposophische, organische Baustil findet sich in jeder einzelnen wieder.
Die Gestaltung dieser Schulgebäude beruht auf der anthroposophischen Lehre: In der Natur folgen Formen Naturgesetzen und vermitteln dadurch Inhalte. Daher werden die Formen der Gebäude den Formen der Natur nachempfunden. Bögen, Schwünge, außergewöhnliche Winkel und Farben hauchen den Schulgebäuden Leben ein. Auf rechte Winkel wird konsequent verzichtet, da die Natur – laut Steiner – keine rechten Winkel kenne. Stilmerkmale sind vielmehr „gerundete Ecken“, organische Formen sowie geometrische Figuren. Dächer werden Großteils als Schalen oder Kappen angelegt. In Innenräumen werden natürliche Farben und Lasuren verwendet, zudem wird zu Naturmaterialien wie Holz oder Stein gegriffen.

 

Unser Waldorfkindergarten auf der Ries in Graz. Ein Holzbau mit gerundeten Dächern und hellrosa Lasur wurde speziell nach den Bedürfnissen der Kindergartenkinder errichtet.

 

Die Gestaltung der Innenräume

Die anthroposophische Architektur spielt auch bei der Gestaltung von Innenräumen eine große Rolle. In der Anthroposophie wird das Haus als dritte Hülle des Menschen – nach Haut und Kleidung – betrachtet. Während runde Formen Gefühle der Geborgenheit und Sicherheit erschaffen sollen, wird geraden Formführungen eine Konzentrations- und Arbeitskraft fördernde Wirkung zugeteilt. So sind die Klassenräume der unteren Schulstufen eher rund und verspielt und jene der älteren Schüler*innen vermehrt trapezförmig und geradlinig, um die Aufmerksamkeit nach vorne zu richten.

 

Auf rechte Winkel wird konsequent verzichtet, da die Natur – laut Steiner – keine rechten Winkel kenne.

Die Materialen

Anthroposophische Gebäude werden durchwegs aus natürlichen Baustoffen errichtet. Lehm, Beton, Stein und Holz spielen in diesem Fall die Hauptrolle.

Lehm

Lehm ist einer der ältesten Baustoffe überhaupt. Er ist ein Verwitterungsprodukt, ist feuchtigkeitsregulierend und lässt sich wunderbar plastisch verarbeiten. Er eignet sich somit ausgezeichnet für die organische Formführung anthroposophischer Bauten und geht auch mit den ökologischen Gesichtspunkten der Anthroposophie d’accord.

Beton

Flüssiger Beton verkörpert nach Steiner den Lebensfluss. Beton als Baumaterial erlaubt eine vielfältige Gestaltungsmöglichkeit. Somit lassen sich organische und abstrakte Formen einfach realisieren. Beton wird als Baustoff durch seine Langlebigkeit, Stabilität und Formbarkeit besonders attraktiv.

Holz

Holz wird vorrangig für Einrichtung, wie Treppengeländer oder Sitzmöbel verwendet. Aus Vollholz lassen sich von der Natur inspirierte Formen in ihrer reinen, unverfälschten Gestalt nachempfinden. Das bedeutet auch, dass auf künstliche Lacke, Spanplatten und Plastik vollkommen verzichtet wird.

Eine anthroposophische Eingangstür in organischer Formgebung aus Holz. Quelle: www.freshideen.com

Farbwahl

Die Farben der Innenräume orientieren sich an der therapeutischen Farbenlehre, welche besagt, dass jede Farbe eine besondere Wirkung auf das menschliche Gemüt habe. Blautöne wirken demnach beruhigend, gelbe oder orange Töne fördern hingegen die Geselligkeit. So kann durch die Farbwahl jeder (Klassen-)Raum auf seine Bedürfnisse hin angepasst und abgestimmt werden.

Bei der Umsetzung der Farbgestaltung wird ausschließlich zu Pflanzenfarben auf ökologischer Basis gegriffen, das sind Kasein- oder Kalkfarben. Auf synthetische Farben und Lacke wird verzichtet, genauso wie auf schreiende Farben. Anthroposophische Gebäude sind nicht nur an ihrer außergewöhnlichen Formgebung erkennbar, sondern auch an ihren zarten Pastelltönen, die zum Teil auch ineinander verlaufend aufgetragen werden.

 

Anthroposophische Gebäude sind nicht nur an ihrer außergewöhnlichen Formgebung erkennbar, sondern auch an ihren zarten Bastelltönen, die zum Teil auch ineinander verlaufend aufgetragen werden.

 

 

 

Ein anthroposophisches Gebäude steht immer im Einklang mit der Natur und erlaubt somit, dass auch der Mensch im Einklang mit der Natur steht. Jede Form, jede Farbe, jedes Material ist von Anfang an durchdacht, um den darin lebenden und lernenden Menschen ein optimales Umfeld zur persönlichen Entfaltung zu bieten.

 

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